Über Biotope, Habitate und Ökosysteme

Was versteht man eigentlich unter einem Ökosystem? Was ist ein Biotop und was ein Habitat? Obwohl es sich um wissenschaftliche Fachbegriffe handelt, erfreuen sie sich in der öffentlichen Kommunikation einer großen Beliebtheit. Aber vielleicht ist es ja gerade der Anschein von Kompetenz, der zu einem lässigen Sprachgebrauch animiert. Es ist jedenfalls augenfällig, dass alle drei Begriffe in der persönlichen Kommunikation, in der Werbung und in weiten Bereichen der Medien, allen voran Presse und Internet, genauso inflationär wie beliebig benutzt werden. Im öffentlichen Diskurs werden die drei Ausdrücke Biotop, Habitat und Ökosystem jedenfalls meistens austauschbar benutzt.

Fachwörter werden ja gerade geprägt, um komplizierte Sachverhalte in einem einzigen, unverwechselbaren Begriff zusammenzufassen; sie dienen der wissenschaftlichen Kommunikation. Wenn ursprünglich nur in Wissenschaftskreisen bekannte Fachtermini eine umgangssprachliche Beliebtheit erlangen, dann liegt die Vermutung nahe, dass sich der Gebrauch bereits weit von den fachlichen Inhalten entfernt hat und sie zu Modeworten oder Gemeinplätzen mutiert sind. Es geht also um das 'Semiotische Dreieck', der Beziehung von Begriff, Benennung und Gegenstand. Wenn Wissenschaftler untereinander Fachbegriffe verwenden, dann weiß man, salopp gesagt, was Sache ist. Nicht so bei Laien, bei denen die Begriffe bei jedem ein jeweils etwas anderes, aber immer ein eher undifferenziertes Bild des Gegenstandes erzeugen wird. Erst dieser Verlust an begrifflicher Fokussierung macht Fachtermini zu Schlagworten: "Gartenmarkt XYZ bietet preiswerte Biotope mit reichhaltigem Zubehör!"

Aber Besserwisserei ist hier völlig unangebracht. Eigentlich sollte es ja eindeutige wissenschaftliche Definitionen geben. Eigentlich? Das hört sich aber nun nicht gerade exakt an. Stimmt! Selbst in gängigen Lehrbüchern der Ökologie wird eine überraschend breite Palette oft wenig deckungsgleicher Definitionen angeboten. Wie kann das sein? Seit etwas mehr als einem Jahrhundert beschäftigt sich die Biologie intensiv mit ökologischen Fragestellungen. So wurden die Fachtermini Ökologie, Ökosystem, Biotop, Habitat usw. von Wissenschaftlern geprägt, die zwar Großartiges für das Fach geleistet haben, aber eben noch am Anfang der Wissenschaft standen. Daher haben sich auch die ursprünglichen Bedeutungsinhalte mit dem Fortschritt der Wissenschaft immer wieder verändert, und nicht nur das, sie haben sich auch in naturwissenschaftlichen Teildisziplinen (Biologie, Land- und Forstwissenschaft, Geographie) und selbst innerhalb von Lehrmeinungen unterschiedlich entwickelt. Und da wir auch heute noch weit davon entfernt sind, die Ökologie (wegen ihrer Komplexität) umfassend zu durchdringen, müssen wir auf endgültige Definitionen mit unverrückbaren Abgrenzungen wohl noch etwas warten.

Da kommt eine weitere Ursache der Begriffsverwirrung nicht ganz überraschend. Viele Pioniere der ökologischen Forschung waren deutschsprachig, die wissenschaftliche Kommunikation ist aber heute englischsprachig. Daher wurden die von europäischen Wissenschaftlern geprägten Begriffe zunächst synonym ins Englische übernommen, kamen aber später mit veränderten Bedeutungen wieder zu uns zurück. Das Gleiche gilt natürlich auch umgekehrt. Jetzt trifft das amerikanische habitat auf das deutsche Habitat und das deutsche Biotop of das englische biotope, und selbst Studenten und Wissenschaftler benutzen diese Termini mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken.

Noch etwas: Die meisten Fachbegriffe leiten sich von konkreten Gegenständen und Vorgängen ab, die zuerst entdeckt und dann benannt wurden. Bei vielen ökologischen Begriffen ist das anders, da war zunächst die Worthülle (mit einem vom Erfinder postulierten Zusammenhang), die nachträglich mit Fakten aus der Natur gefüllt werden sollte. Stülpen wir also der Natur unsere Vorstellungen über? Ganz so abwegig ist diese Vermutung nicht, denn bei den Begriffen Ökosystem, Biotop und Habitat handelt es sich nämlich weniger um unmissverständlich charakterisierende Fachausdrücke (z. B. Zelle, Stoffwechsel, Fotosynthese) als um Postulate oder Theorien.

Jetzt sind wir am Kern des Verständnisproblems: Die Frage, was ein Ökosystem, Biotop oder Habitat konkret darstellt und ob und wie sie sich von anderen Ökosystemen, Biotopen oder Habitaten abgrenzen lassen, das genau sind Gegenstände vieler fachlicher Kontroversen. Mit der Erkenntnis, dass die Begriffe abstrakt sind und die Gegenstände, die sie beschreiben sollen, (noch) nicht klar definiert sind, können wir uns endlich an den Versuch einer Antwort machen, die notwendigerweise stark verkürzend und unvollständig bleiben muss. Ein tieferes Verständnis kann (leider) nur ein Lehrbuch vermitteln.

Fangen wir beim Begriff Habitat an. Er kommt aus dem Lateinischen und bedeutet: er/sie/es wohnt. Als Habitat versteht man folgerichtig den "Wohnraum" oder Lebensraum einer Tierart oder Tierpopulation. Bei Pflanzen spricht man meist vom Standort. Der Lebensraum ist dabei nicht vorrangig geografisch definiert (das wäre dann das Verbreitungsgebiet oder Areal), sondern als die natürliche Umgebung, die mit allen für das Überleben und die Vermehrung einer Art notwendigen Strukturen und Eigenschaften ausgestattet ist.

Jetzt kommt der Wermutstropfen: Im Englischen wird Habitat meist synonym für Biotop genutzt und mit dieser Bedeutung ist der Ausdruck dann auch wieder zu uns zurückgekommen. In der öffentlichen Kommunikation und Wahrnehmung wird, wie oben bereits ausgeführt, ohnehin nicht unterschieden, aber vor allem bei Schülern und Studenten stiftet dieses Durcheinander eine riesige Verwirrung.

Bleiben wir also bei der oben genannten Definition des Habitats. Sie ist in ihrer Bedeutung relativ leicht zu begreifen, weil es konkretes Wissen über die Lebensbedingungen von Tieren und Pflanzen gibt. Und selbst wenn nicht (übrigens bei den weitaus meisten Spezies), dann erscheint es selbstverständlich, dass Tiere und Pflanzen dort leben, wo sie die Bedingungen vorfinden, die sie benötigen. Nehmen wir als Beispiel den Halsbandschnäpper. Wie jedes Tier benötigt dieser unscheinbare Vogel sein Futter, Singwarten oder einen Nistplatz. Das alles findet er offensichtlich in strukturreichen Auwäldern. Das ist sein Habitat. Aber er brütet auch gerne auf alten Streuobstwiesen. Auch das ist sein Habitat. Warum er diese für uns so unterschiedlich erscheinenden Lebensräume nutzt, darüber können wir nur spekulieren. Für unsere Vorstellung des Halsbandschnäpper-Habitats ist das aber unwichtig. Es wird schon Gründe geben. Jetzt kommt der Schnäpper aber nicht auf allen Streuobstwiesen und nicht in allen Auwäldern vor. Auch hierfür wird es Gründe geben. Vermutlich fehlen Faktoren, die dem Halsbandschnäpper bekannt sind, nicht aber dem Ornithologen. Jedenfalls bringt das unsere Vorstellungen von einem Habitat nicht ins Wanken. Auch nicht der Umstand, dass der Halsbandschnäpper ein Zugvogel ist. Er kann sein Sommer-Habitat eben nur in der warmen Jahreszeit nutzen und zieht vermutlich aus Futtermangel in sein afrikanisches Winter-Habitat, das ebenfalls eine bestimmte Struktur und Ausstattung haben wird. Auch auf dem Zug wird der Schnäpper an Orten Rast machen, die dann ebenfalls zu seinem Habitat gehören. Der Begriff des Habitats kann sich also durchaus als vielschichtig darstellen.

Jetzt nutzt der Halsbandschnäpper aber nicht die Gesamtheit seines Lebensraumes. Er benötigt Futterinsekten oder eine Nisthöhle und noch einiges mehr, aber auf das Meiste, was da sonst noch in einem Laubwald oder auf einer Streuobstwiese zu finden ist (die Pflanzen, die Bodenlebewesen usw.), könnte er wohl verzichten. Tatsächlich kann man aber das eine nicht ohne das andere bekommen, denn alle Faktoren, Strukturen und Lebewesen zusammen bilden eine Gesamtheit: das Biotop. In diesem Biotop besetzt der Halsbandschnäpper eine ökologische Nische. Während der Begriff des Habitats konkretisierbar ist, beschreibt der Begriff der ökologischen Nische eher eine Theorie als einen darstellbaren biologischen Gegenstand. Hinter diesem Ausdruck steckt die Idee, dass Lebewesen irgendwie in Strukturen und Faktoren ihres Lebensraumes eingebunden sein müssen und dass sie nicht allein leben, sondern sich in einem vielfältigen direkten oder mittelbaren Beziehungsgeflecht mit den anderen Bewohnern befinden, mit denen sie ihre Bedürfnisse und Ansprüche in Einklang bringen müssen (Ressourcenaufteilung). Eine ökologische Nische muss zwar zwingend die Bedürfnisse einer Art befriedigen können (Futter, Fortpflanzung, Klima), sie muss also zunächst einmal vorhanden sein, ob eine Art eine solche Nische dann aber tatsächlich besetzen kann, wird auch von den Interaktionen mit anderen Akteuren der Lebensgemeinschaft bestimmt (Räuber, Beute, Parasiten, Konkurrenten). Der Nischenbegriff ist also anders als das Wort suggerieren mag nicht räumlich definiert. Es geht eher um die Rolle, die eine Art in einem bestimmten Biotop spielt.

Jetzt sind die Begriffe Biotop und Lebensgemeinschaft bereits gefallen, während ich das Wort Ökosystem aus gutem Grund bislang vermieden habe. Vielleicht sehen wir uns zunächst einmal die Wörter selbst an. Sie sind aus griechischen Wortstämmen zusammengesetzt. Das Wort Biotop leitet sich von bios für Leben und topos für Ort ab. Das entspricht dem deutschen Ausdruck Lebensraum. Biozönose enthält neben bios den Wortstamm für koinos, was gemeinsam bedeutet. Lebensgemeinschaft ist eine gebräuchliche deutsche Übersetzung. Ökosystem setzt sich aus dem altgriechischen Wortstamm oikos für Hausgemeinschaft und systema für das Verbundene zusammen. Das über eine Hausgemeinschaft Verbundene wäre eine ausgesprochen zutreffende Übersetzung des Begriffes, für den es kein sinnvolles Schlagwort gibt.

Der (oder auch das) Biotop ist der Lebensraum in einem umfänglichen Sinne. Er umfasst das Relief und die Beschaffenheit des Raumes sowie die abiotischen Einflussgrößen. Zu diesen zählt beispielsweise die chemische Zusammensetzung von Luft, Wasser oder Boden. Aber auch physikalische Umweltfaktoren werden zum Biotop gezählt. Dazu gehören besonders die des Klimas wie Temperatur, Luftfeuchte, Niederschlag, Wind, Dauer der Schneebedeckung oder Sonneneinstrahlung. Kiesgefüllte Stromtäler und schwankende Wasserstände - das sind zum Beispiel die entscheidenden Biotopeigenschaften, die das Leben in der Flussaue bestimmen. Aber wie bezeichnen wir den Wald? Als Biotop? Als Ökosystem? Sind Bäume nicht gleichzeitig Lebensraum für viele Pilze und Tiere und doch selbst Teil der Biozönose? Ganz anders ein Baumstumpf. Er ist zwar ein biologisches Objekt, aber ein abgestorbenes, und kann daher kaum selbst zu einer Lebensgemeinschaft gehören. Dafür beherbergt er aber eine spezialisierte Biozönose von Totholzbewohnern. Das qualifiziert ihn eindeutig als Biotop, womit der Baumstumpf zusammen mit seinen Bewohnern auch ein Ökosystem wäre. Ist der Baumstumpf dann ein Teilökosystem des Ökosystems Wald und damit gleichzeitig ein Teilbiotop des Biotopes Wald? Was sich wie ein skurriles Wortspiel anhört, spiegelt eine sehr weit verbreitete Unsicherheit in der Verwendung dieser ökologischen Begriffe wider.

Tatsächlich ist ein Ökosystem mehr als die Summe aus Biotop plus Biozönose. Zu den systemrelevanten Eigenschaften gehören die Wechselbeziehungen zwischen allen Elementen und Objekten innerhalb des Systems und deren Verknüpfungen mit der Umgebung. Hierzu zählen neben den Wirkungen der unbelebten Umwelt auch die Einflüsse, die von den Lebewesen selbst ausgehen, insbesondere die der Konkurrenz zwischen Individuen und Arten, Räuber-Beute-Beziehungen oder Nahrungsketten. Weil sich aber alle Beziehungen innerhalb eines Ökosystems gegenseitig beeinflussen, hat eine strikte Trennung der Begriffe Biotop, Biozönose und Ökosystem eine allenfalls konzeptionelle Bedeutung. Schließlich kann keiner dieser Ausdrücke isoliert benutzt werden, ohne dass gleichzeitig auch das fehlende Begriffspaar impliziert würde. Ein Biotop ohne Biozönose wäre ebenso sinnlos wie ein Ökosystem ohne Biotop. Damit beantwortet sich auch die Frage nach dem Status des Waldes: Er ist Biotop, Biozönose und Ökosystem zugleich. Ebenso nebensächlich ist letztlich das Problem, ob ein Baumstumpf als Teilbiotop des Ökosystems Wald zu betrachten ist. Jedes Biotop dient einer spezialisierten Lebensgemeinschaft als Lebensraum und bildet folgerichtig auch die Grundlage für ein Ökosystem.

Hier beweist sich die anfänglich geäußerte Vorsicht bei der Verwendung von abstrakten Begriffen, die erst erfunden werden, um sie dann mit konkreten Inhalten zu füllen. Die Natur richtet sich nicht nach unseren Definitionen. Auch der Wunsch des Menschen, alles klassifizieren und hierarchisch gliedern zu wollen, weil das unserem Verständnis dienlich ist, scheitert häufig kläglich. Nicht dass manche Phänomene der Natur grundsätzlich unerklärbar blieben, aber unsere geistigen Werkzeuge zu ihrer Erfassung sind eben manchmal untauglich. Wie grenzen wir zum Beispiel Ökosysteme voneinander ab? Können sie sich überschneiden? Ist der Überschneidungsbereich dann ein eigenes Ökosystem. Endet ein Ökosystem dort, wo wir eine klare Grenze erkennen (Waldrand, Flussufer) oder gibt es für uns unsichtbare Grenzen? Wie sollen wir die aber dann erkennen? Diese Fragen zeigen, dass Begrifflichkeiten nur für uns, nicht aber für das Funktionieren der Biologie von Belang sind. Möglicherweise werden wir daher irgendwann einmal auf viele der heute benutzten ökologischen Begriffe verzichten, einerseits, weil sie ohnehin zu Missverständnissen Anlass geben und andererseits, weil wir vielleicht ein Erklärungsmodell entwickelt haben, dass eine andere Terminologie erfordert. Die Wissenschaft hätte kein Problem damit.

Und genau an dieser Stelle ist es angebracht, auch noch zwischen der forschenden und der angewandten Ökologie zu unterscheiden. Beide Disziplinen verfolgen nämlich eigene Ziele, setzen auf verschiedene Methoden - und sie verwenden auch eine abweichende Terminologie. Der unterschiedliche Gebrauch der Bezeichnungen Ökosystem und Biotop ist sicher die maßgebliche Ursache für die häufigen Missverständnisse. Die ökologische Grundlagenforschung ist Teil der Biologie. Sie widmet sich dem Studium der Funktion von Ökosystemen. Dabei wird der Begriff Ökosystem selten hierarchisch verwendet, sondern meistens rangfrei, ohne eine Unterscheidung von Ober-, Teil- oder Unterökosystemen. Der Spaltraum zwischen Rinde und Holz kann ebenso als Ökosystem aufgefasst werden wie das Kronendach des Waldes, der Hartholzauenwald, die Flussaue oder die Gesamtheit der Laubwälder der gemäßigten Breiten. Dies entspricht der wissenschaftlichen Auffassung, dass biologische Systeme grundsätzlich offene Systeme sind. Ökosysteme verfügen sowohl über einen internen Stoff- und Energiekreislauf als auch über einen Stoff- und Energieaustausch über ihre Grenzen hinaus. Obwohl biologische Systeme als nie wirklich abgegrenzt aufgefasst werden, steht dies nicht im Widerspruch zu der Auffassung, dass Ökosysteme durchaus funktionelle Einheiten bilden, die sich aufgrund ähnlicher Lebensverhältnisse innerhalb ihrer Grenzen von anderen unterscheiden.

Die Landschaftsökologie ist, trotz vieler inhaltlicher Überschneidungen mit der Biologie, Teil der Geographie. Der praktische Ökologe betrachtet die Oberfläche einer Landschaft als Mosaik aus natürlichen und künstlichen Teilräumen. In der Regel bezeichnet er alle nicht verbauten Flächen als Biotope, und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen Nutzung. Daher gibt es auch eine Biotopschutzverordnung, Biotopbäume oder eine offizielle "Rote Liste der Gefährdeten Biotope". Es gehört nämlich zu den Aufgaben der angewandten Ökologie, landschaftliche Elemente zu kartieren und nach ihren Strukturen und Funktionen zu bewerten. Auf diese Weise entstehen Planungsgrundlagen für Naturschutz, Landschaftspflege und ökonomische Nutzung. Daher werden Biotope auch als konkrete Ausschnitte der Natur behandelt, die mit Hilfe von Biotopkartierungsverfahren exakt in einer Karte darstellbar sind. Und man unterstellt eine Rangordnung. Altholz, Baumstubben, Äste und Baumkronen gelten als Teilbiotope des Biotopes Wald. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise ist erforderlich, weil man mit dem Ökosystembegriff der Grundlagenforschung keine administrativen Planungsgrundlagen schaffen kann. Gerade die Verwaltung als Auftraggeber wünscht eine technische Kartierung und Typisierung von Biotopen vergleichbar einem Kataster, in dem alle Grundstücke säuberlich getrennt und lückenlos verzeichnet sind. Standardisierte Verfahren, die sich in der Regel auf das Vorkommen charakteristischer Pflanzen als Indikatoren beschränken, sind die mit Abstand wichtigsten Instrumente der Kartierung und Bewertung von Biotopen.

Der Wissenschaftler betreibt Ökosystemforschung, der Praktiker Landschaftsplanung und Biotopschutz - das bringt den wesentlichen Unterschied vielleicht auf den Punkt. Beide Disziplinen, das soll hier ausdrücklich betont werden, ergänzen sich. Die Grundlagenwissenschaft erforscht die ökologischen Bedingungen für die Entstehung der Artenvielfalt, die praktische Ökologie schafft den administrativen Rahmen für ihren Schutz. Während die Grundlagenforschung eher an natürlichen oder naturnahen Biotopen interessiert ist, beschäftigt sich die Landschaftsökologie auch mit der Typisierung von Biotopen, die durch menschliche Nutzung geprägt sind.

© Professor Dr. Jörg Hemmer

Biodiversität

Der Reichtum an Tier- und Pflanzenarten ist das sichtbare Zeichen der durch Evolution entstandenen Biodiversität. Es geht aber bei der Betrachtung der Biodiversität nicht allein um das reine Vorhandensein von Arten wie dies durch den deutschsprachigen Ausdruck Artenvielfalt fälschlich nahegelegt wird.

Es ist einleuchtend, dass ein fiktiver Lebensraum, z.B. ein Naturschutzgebiet, in dem von jeder Art jeweils ein Pärchen lebt ("Arche-Noah-Prinzip") nicht mit einem ansonsten identischen Lebensraum vergleichbar ist, selbst wenn in diesem genau die gleichen Arten leben würden, diese aber mit einer jeweils unterschiedlichen Anzahl von Individuen.

Jede Spezies besteht nämlich aus genetisch unterschiedlichen Individuen. Das Ausmaß an genetischer Variation innerhalb einer Art hängt von vielen Faktoren ab (Anzahl der Individuen, Umfang des Genoms, Art und Umfang der sexuellen Vermehrung, Ausdehnung des geographischen Verbreitungsareales, Isoliertheit von Populationen oder Individuen usw.) und ist daher von Art zu Art sehr unterschiedlich. Genetische Variation erhöht die Anpassungsfähigkeit im Raum (Erschließung neuer Lebensräume) und in der Zeit (Anpassung an Veränderungen). Eine geringe genetische Variation ist meist das Ergebnis von Inzucht als Folge einer Reduktion der Individuenzahl. Dies hat eine erhöhte Anfälligkeit für Krankheiten und eine Verringerung der Vermehrungsfähigkeit zur Folge, so dass eine solche auf wenige Individuen geschrumpfte Art oder Population mit großer Wahrscheinlichkeit aussterben wird, obwohl sie noch als Teil der Artenvielfalt gelistet wird.

Eine solche kritische Abnahme der Individuenzahl ("Bottleneck") kann aber auch zu einer schnellen Evolution der Restpopulation führen, wenn sich durch die Homogenisierung des Genoms besonders vorteilhafte Merkmalkombinationen durchsetzen können. So ist die Menschheit durch einen solchen "Flaschenhals" von nur etwa zehntausend Individuen gegangen. Das Risiko des Aussterbens war in dieser Phase außerordentlich hoch. Man kann also nicht sagen, dass eine große genetische Vielfalt grundsätzlich "besser" wäre als eine geringe.

In einer nicht von Menschen geprägten Welt wäre die genetische Vielfalt innerhalb einer Art das Abbild ihrer historischen, evolutiven Entwicklung, das Ergebnis von Erfolg oder Scheitern von Anpassungsvorgängen. Heute ist jedoch der Rückgang sowohl der Zahl der Arten als auch der Menge an Individuen innerhalb von Arten und Populationen im Wesentlichen ein Ergebnis menschlicher Eingriffe, welche das natürliche Kommen und Gehen von Arten weitgehend überlagert hat.

Jedes Lebewesen benötigt einen bestimmten Lebensraum, zum Beispiel einen Teich (Amphibien), einen Wald mit morschen Bäumen (Kleinspecht) oder die Blätter der Fetthenne (Raupe des Apollofalter). Geht der Lebensraum verloren, dann verschwinden auch die Arten, die von diesem abhängig sind. Auch die ökologische Vielfalt ist damit ein funktionaler Teil der Biodiversität. Tatsächlich ist eine formale Aufspaltung des Begriffes Biodiversität in die Kategorien Artenvielfalt, genetische und ökologische Vielfalt willkürlich, denn keine Komponente kann im natürlichen Umfeld isoliert betrachtet werden.

Schrumpft der Bestand einer Art durch Verfolgung (Tiger), Klimawandel (Eisbär) oder durch Verkleinerung des Lebensraumes (Gorilla), dann sterben die letzten ihrer Art vielleicht nicht durch die Hand des Menschen, aber irgendwann durch Inzucht. Der Fortbestand einer Tier- oder Pflanzenart erfordert nämlich eine ausreichend hohe Anzahl vermehrungsfähiger und genetisch unterschiedlicher Individuen. Die Vielgestaltigkeit an Lebensräumen ist die Voraussetzung für den Erhalt überlebensfähiger Populationen und damit für die Bewahrung der natürlichen Artenvielfalt. Genetische Vielfalt, Artenvielfalt und Lebensraumvielfalt sind die drei untrennbar miteinander verknüpften Ebenen der "Biologischen Vielfalt" oder Biodiversität.

© Professor Dr. Jörg Hemmer

Externe Links

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